Supply Chain Index: Standort Deutschland verliert an Attraktivität

Lieferkettenprobleme beeinträchtigen laut einer Erhebung von Deloitte jedes zweite deutsche Unternehmen in größerem Umfang – trotz sich weltweit entspannender Supply Chains.

Lieferkettenprobleme plagen deutsche Unternehmen laut einer Studie von Deloitte besonders stark. (Symbolbild: Carlos Castilla / AdobeStock)
Lieferkettenprobleme plagen deutsche Unternehmen laut einer Studie von Deloitte besonders stark. (Symbolbild: Carlos Castilla / AdobeStock)
Therese Meitinger

Die weltweiten Lieferketten zeigen Anzeichen der Entspannung, doch diese Entlastung kommt bei den Unternehmen in Deutschland kaum an. Zu diesem Schluss kommt der „Supply Chain Pulse Check“, eine aktuelle Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte. Dafür hat Deloitte im Januar und Februar rund 120 Lieferketten-Verantwortliche von Unternehmen in Deutschland befragt, vorwiegend aus den Branchen Maschinenbau/Industriegüter, Automobil und Chemie. Eine deutliche Mehrheit der Befragten (79 Prozent) sind Vertreter von Großunternehmen mit 250 oder mehr Mitarbeitern oder einem Jahresumsatz von mehr als 50 Millionen Euro.

Laut einer Pressemitteilung vom 24. März sind demnach mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Befragten der Ansicht, dass ihr Unternehmen durch Lieferkettenprobleme wie Störungen oder Unterbrechungen in den Informations-, Finanz- oder Warenflüssen aktuell stark oder sehr stark beeinträchtigt wird. Dabei sei die Bewertung des eigenen Unternehmens oft optimistischer als die der Wettbewerber, heißt es vonseiten der Berater. Mit Blick auf die gesamte Branche sehen demnach 60 Prozent eine starke oder sehr starke Beeinträchtigung. 46 Prozent sehen sogar ein steigendes Risiko, dass ihre Lieferkette vollständig oder teilweise ausfällt.

Zwar seien Rohstoffe und Bauteile wieder besser verfügbar als im vergangenen Jahr, doch die Lieferengpässe hätten zu dauerhaft hohen Einkaufspreisen geführt, so Deloitte. 77 Prozent der Firmen bekommen den Studienergebnissen etwas oder gar deutlich steigende Einkaufspreise zu spüren, während der Umsatz für 61 Prozent konstant bleibt oder sinkt. Entsprechend geraten die Margen unter Druck: Lediglich 20 Prozent der Befragten erleben angesichts der nachwirkenden Belastungen ihrer Lieferketten etwas oder deutlich steigende Gewinne. Bei 80 Prozent bleiben die Gewinne konstant oder sinken, zum Teil deutlich. Und kurzfristig ist kaum Besserung zu erwarten.

Standort Deutschland gerät unter Druck

„Die anhaltende Belastung der Unternehmen insbesondere durch die hohen Preise, die Inflation und – vor allem in Deutschland – durch die hohen Energiepreise sind ein Risiko für den Standort“, sagt Florian Ploner, Partner bei Deloitte und verantwortlich für den Sektor Industrial Products & Construction.

Die Unternehmen seien gut beraten, ihre Kosten effizient zu managen, Partnerschaften auszubauen und neue Technologien in einer nach geopolitischen Risiken ausgerichteten Lieferkette einzusetzen, so Ploner weiter

Tatsächlich hat der Wirtschaftsstandort Deutschland nach Ansicht von 52 Prozent der Befragten in den vergangenen Jahren bereits an Attraktivität verloren. Und auch in Zukunft sehen die Unternehmen wenig Grund für Optimismus: In den kommenden drei Jahren rechnen 58 Prozent damit, dass die Attraktivität Deutschlands im Vergleich zu führenden Industriestandorten weiter sinkt, bis hin zu einer möglichen Deindustrialisierung: Fast jeder zweite Befragte (45 Prozent) schätzt Deloitte zufolge die Gefahr, dass sich Deutschland deindustrialisiert, als groß bis sehr groß ein.

Lieferketten sollten verkürzt werden

Zahlreiche Unternehmen reagieren auf die aktuelle Situation mit der Verkürzung oder Verlagerung ihrer Lieferketten. 37 Prozent der Befragten haben mit so genanntem Nearshoring begonnen oder diese Maßnahme bereits umgesetzt; weitere 29 Prozent planen, sie zu ergreifen. Friendshoring, also die Verlagerung von Teilen der Lieferkette in befreundete Länder, haben 22 Prozent begonnen oder bereits umgesetzt (geplant: 33 Prozent).

Attraktiver als der Standort Deutschland erscheinen den meisten Befragten Nordamerika (56 Prozent), Osteuropa (46 Prozent) und Südostasien (29 Prozent). Die meistgenannten Länder sind dabei die USA, Polen, Vietnam, Indien und Brasilien. Als Grund für die Verlagerung des Standorts spielen geringere Regulierung und Energiesicherheit (in Nordamerika), niedrige Arbeitskosten und gute Anbindung (in Osteuropa) sowie Vorteile bei den Produktionskosten (in Südostasien) eine wesentliche Rolle.

Feuer löschen noch im Vordergrund

„Die Situation an der Lieferkette ist nach wie vor angespannt, auch wenn das für die Verbraucher inzwischen nicht mehr so deutlich zu spüren ist wie in 2022“, sagt Dr. Jürgen Sandau, Partner bei Deloitte und verantwortlich für den Bereich Supply Chain & Network Operations. „Viele Firmen reagieren mit kurzfristigen Feuerlöschmaßnahmen, um die aktuelle Situation zu bewältigen.“

So haben 68 Prozent der Befragten die Ausweitung ihrer Lagerhaltung begonnen oder bereits abgeschlossen; 59 Prozent nutzen Sonderfahrten zur Beseitigung kurzfristiger Versorgungsstörungen. „Kostspielige Maßnahmen wie diese sind jedoch wenig zukunftsorientiert und kaum geeignet, die Lieferketten dauerhaft resilient zu machen für weitere Krisen sowie die großen Herausforderungen unserer Zeit wie die Dekarbonisierung“, so Sandau. „Stattdessen belasten sie die Bilanzen der Unternehmen zusätzlich zu den ohnehin schon hohen Preisen.“

Kurzfristig könnten sie für viele Unternehmen jedoch das Mittel der Wahl bleiben. 75 Prozent der Befragten der Deloitte-Erhebung rechnen für die kommenden drei Monate nicht mit einer Veränderung der Situation beziehungsweise mit einer leichten bis starken Verschlechterung.