SCM: Das lange Nachspiel der Suezkanal-Blockade

Auch nachdem die „Ever Given“ am 29. März freigesetzt wurde, ist mit Störungen in den Lieferketten zu rechnen.

Die jüngst aufgehobene Blockade am Suezkanal könnte die Containerpreise im Asienhandel zusätzlich nach oben treiben. (Symbolbild: Ralf Gosch / Fotolia)
Die jüngst aufgehobene Blockade am Suezkanal könnte die Containerpreise im Asienhandel zusätzlich nach oben treiben. (Symbolbild: Ralf Gosch / Fotolia)
Therese Meitinger

Kurz nach 15 Uhr war es am Montag, den 29. März, endlich so weit: Das Containerschiff „Ever Given“ lag nach den hochkomplexen Befreiungsmanövern des Anbieters Boskalis wieder frei im Wasser und konnte aus dem Suezkanal gezogen werden. Zuvor hatte das Schiff die Wasserstraße, über die rund zwölf Prozent des Welthandels abgewickelt werden, knapp eine Woche lang blockiert. Auf beiden Seiten des Kanals stauten sich zuletzt Hunderte Schiffe, darunter auch mehrere Öltanker. Die Versicherung Lloyds List bezifferte den Schaden, der Unternehmen weltweit aus der anhaltenden Blockade erwuchs, mit 400 Millionen Euro – pro Stunde. Allein dem kanalbetreibenden Ägypten entgingen pro Passage rund 72.000 Dollar.   

Durchschnittlich 51 Schiffe passierten im vergangenen Jahr pro Tag den Suezkanal; der maximal mögliche Durchsatz liegt laut dem World Shipping Council bei 106 Schiffen: Bis alle wartenden Schiffe die Passage bewältigt haben, kann es mehrere Tage dauern. Doch auch danach kann es zu Irritationen in der Lieferkette kommen.

Lassen sich Schiffe kurzfristig umverteilen?

Prof. Dr. Michael Huth vom Department of Business Logistics and Supply Chain Management der Hochschule Fulda vergleicht den Rückstau etwa mit dem Auflauf, der an Raststätten nach einem aufgelösten Stau auf der Autobahn entsteht:

„Die vielen wartenden Schiffe werden peu à peu den Kanal passieren, die Schlange wird also kürzer, aber dann kommt auf die Hochseehäfen eine Welle an Schiffen zu, die abgefertigt werden wollen“, so Huth gegenüber LOGISTIK HEUTE. „Es wird damit in den Lieferketten gewisse Verzögerungen geben, aber die sind rein kurzfristiger Natur.“

Allein der Hafen Rotterdam rechnet mit 56 Containerschiffen, die nun innerhalb eines verkürzten Zeitfensters eintreffen werden – darunter auch die Ever Given. Hinzukommen drei Tanker und ein Schiff voller Autos. Doch Seefahrtexperten zufolge lässt sich die Abfertigung großer Schiffe nicht beliebig beschleunigen. Hier dürften zusätzliche Verzögerungen auflaufen. Der Terminalbetreiber Eurogate sprach sich am 30. März gegenüber der dpa etwa dafür aus, die aus dem Suezkanal eintreffenden Schiffe auf verschiedene Häfen umzuverteilen. Steuerten alle Schiffe ihre Zielhäfen an, „wird das nicht klappen“, so ein Sprecher des Unternehmens. Entscheiden müssten die Reedereien, so der Sprecher zur dpa. Eurogate betreibt in Deutschland Containerterminals in Bremerhaven, Wilhelmshaven und Hamburg.

Dass einige Reedereien sich während der Blockade im Suezkanal dafür entschieden, ihre Schiffe über das Kap der Guten Hoffnung umzuleiten, dürfte auch nicht wesentlich zur Entzerrung beitragen: Der Umweg von rund 6.000 Kilometern auf der Strecke von Shanghai nach Hamburg kostet rund eine Woche – wer sich frühzeitig dafür entschieden hat, kommt etwa zur gleichen Zeit wie Schiffe an, die gewartet haben.

Explodieren die Containerpreise?

Wie sich die Blockade in den Lieferketten im Einzelfall auswirken wird, bleibt abzuwarten. Feststeht bereits, dass die Havarie zur Unzeit kommt und bereits bestehende Konfliktlagen aus der Coronakrise verschärfen dürfte.

„Schon die Coronakrise hat für Verwerfungen im maritimen Handel gesorgt und die Preise für den Container-Transport explodieren lassen“, so Vincent Stamer, Experte für maritimen Handel am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) in einer Mitteilung vom 29. März.   

Die Schiffshavarie im Suezkanal und ihre Nachwirkungen kämen nun noch als zusätzliche Belastung hinzu, so Stamer weiter. Das treibe tendenziell die Preise für den Seehandel nach oben, was sich früher oder später auch in den Produktpreisen niederschlagen dürfte. Dem IfW zufolge ist es aktuell fünfmal so teuer, einen Container von Europa nach Asien zu transportieren wie vor einem Jahr.

Die Bundesrepublik ist nach IfW-Angaben besonders von einer Blockade im Suezkanal betroffen, denn schätzungsweise neun Prozent aller deutschen Gütertransporte und -importe passieren den Suezkanal. Und vor allem im Bereich der Elektronik sind deutsche Industrien stark von asiatischen Vorleistungen abhängen – zehn Prozent der direkt verwendeten deutschen Elektronik-Vorleistungen stammen aus den sechs größten Volkswirtschaften Asiens. Auch ohne Handelshindernisse überstieg die Nachfrage nach Halbleitern zuletzt bei Weitem die Nachfrage.

Gewinnt SCRM an Bedeutung?

Blockaden neuralgischer Verkehrsknotenpunkte sind zwar extrem selten, aber sie kommen vor. „Denken Sie an die ,Suez-Krise‘, als 2004 ein Frachter den Kanal blockiert hatte und ein weiteres Schiff mit den aktuellen Spielekonsolen für das Weihnachtsgeschäft auf dem europäischen Markt im Stau feststeckte“, erinnert Michael Huth von der HS Fulda. Mit vergleichbaren Blockade-Ereignissen müsse man also rechnen. Er empfiehlt Unternehmen, in Risikomanagement zu investieren, um einen Plan B parat zu haben.

„Unternehmen, die die Risiken einer Supply Chain kennen, sind auf derartige Ereignisse besser vorbereitet. Sie entscheiden dann schnell und gezielt, was zu tun ist: In diesem Fall könnten Schiffe um das Kap der Guten Hoffnung geführt werden; das dauert zwar etwas länger, kann aber sinnvoll sein, um nicht vom Erfolg der Bergungsmaßnahmen abzuhängen, deren Zeitdauer ja wiederum unbestimmt ist“, so Huth.

Ob der zu erwartende Milliardenschaden aus der jüngsten Blockade des Suez-Kanals ein Umdenken in Richtung mehr Risikomanagement auslösen wird, da ist Huth skeptisch: Er hoffe zwar, dass betroffene Unternehmen künftig intensiver SCRM betrieben, sagt der Wissenschaftler. Und weiter:

„Gleichzeitig bin ich da pessimistisch, denn das Thema ist bei vielen Unternehmen weiterhin nicht besonders weit oben auf der Agenda. Davon abgesehen ist der jetzige Vorfall nur ein temporär wirkendes Ereignis, das kaum mittel- oder langfristige Konsequenzen nach sich ziehen wird.“