Interview: „Wir dürfen Wissenschaft und Wirtschaft nicht länger getrennt voneinander betrachten“

LOGISTIK HEUTE im Gespräch mit Prof. Dr. Julia Arlinghaus, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb- und automatisierung IFF Magdeburg.

Prof. Dr. Julia Arlinghaus sprach mit LOGISTIK HEUTE über die Zukunft der Produktionslogistik in Deutschland. (Foto: Fraunhofer IFF)
Prof. Dr. Julia Arlinghaus sprach mit LOGISTIK HEUTE über die Zukunft der Produktionslogistik in Deutschland. (Foto: Fraunhofer IFF)
Sandra Lehmann

Prof. Dr. Julia Arilinghaus, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb- und automatisierung IFF Magdeburg, sprach im Interview mit LOGISTIK HEUTE über den Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis und die Zukunft der Produktionslogistik.

Frau Prof. Dr. Arlinghaus, Sie sind kürzlich in den Wissenschaftsrat berufen worden. Mit welchen Zielen gehen Sie an diese Aufgabe heran?

Durch meine Arbeit in Wissenschaftsrat kann ich unmittelbar dazu beitragen, unser Wissenschaftssystem so auszugestalten, dass Deutschland ein führender Innovationsstandort bleibt und hier mit Einsatz von Technologie und einzigartigem Know-how hochwertigste Produkte hergestellt werden. Dafür dürfen wir Wissenschaft und Wirtschaft nicht länger getrennt voneinander betrachten. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie schnell und trotzdem sicher wissenschaftliche Erkenntnisse in die unternehmerische Praxis überführt werden können. Mein Ziel ist es, aus dieser Erfahrung Rückenwind mitzunehmen und diese Transfer-Geschwindigkeit in andere Branchen zu übertragen, auch und besonders in die Logistik und Produktion.

Welche Forschungsschwerpunkte sind momentan für Sie besonders aktuell?

Auch mich treiben die Fragen um, wie es uns gelingen kann, Arbeitsplätze in Deutschland zu halten. Wie können deutsche Unternehmen trotz gesättigter Märkte erfolgreich bleiben? Und wie können wir gleichzeitig globale Probleme wie Klimawandel und Armut bewältigen? Für die Forschung sehe ich daher die Aufgabe, dahin zu schauen, wo es wirklich weh tut: die Steigerung der Innovationskraft, Transparenz in globalen Lieferketten und Märkten, klimaneutrale Produktion und Logistik, menschenwürdige Arbeitsplätze bei gleichzeitigen Effizienzsteigerungen durch Einsatz von KI und Digitalisierung, zum Beispiel bei der smarten Instandhaltung, KI-gestütztes Engineering und unternehmensübergreifende Planung und Steuerung von Bedarfen und Kapazitäten in Wertschöpfungsnetzen.

Forschung ist eine Seite, Praxis die andere. Wie steht es aus Ihrer Sicht momentan um die Transformation wissenschaftlicher Ergebnisse in operative Lösungen?

Hier schlummert in Deutschland ungeheures Potenzial. Unternehmen und Wissenschaft könnten noch viel enger partnerschaftlich und synergetisch zusammenarbeiten. Wir brauchen das Zusammenspiel aus Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Praxis. Ein Team aus Visionären, aus realistischen Planern und unternehmerischen Machern wird immer die besten Resultate erzielen. Das Gleiche gilt auch für die Kombination verschiedener Disziplinen. In einer sich schnell verändernden Welt der Digitalisierung müssen Entscheidungen schnell und präzise getroffen werden. Die erfolgreichsten Führungskräfte sind intuitiv darauf vorbereitet und können unterschiedliche Perspektiven involvieren und orchestrieren.

Gibt es Nachholbedarf und falls ja, wo liegt dieser Ihrer Meinung nach?

Es braucht ein weiteres Zusammenwachsen der Disziplinen. Ich bin im Herzen Logistikerin und war immer stolz, auch für mich in Anspruch zu nehmen, dass die Logistiker diejenigen sind, die ganzheitlich auf Unternehmen und Systeme schauen, Probleme und Lösungen mit ihren gesamten Wechselwirkungen analysieren und so die beste Lösung finden. Dieses Denken erfordern alle großen Fragen unsere Zeit. Und wir müssen Wissenschaft und Praxis enger zusammenzubringen. Darum involvieren wir Studierende heute ganz bewusst in Forschungsprojekte und weichen die klassischen Grenzen zwischen Ingenieurwesen, BWL, Informatik und Psychologie auf. Nur so kann ich meine Studierenden in die Lage versetzen, für komplexe Probleme auch komplexe Lösungen zu entwickeln. Kooperative Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten können da ebenso ein erster Schritt sein wie ein gefördertes Forschungsprojekt.

Gibt es Forschungsprojekte oder auch Best Practices, die Sie in den vergangenen Monaten besonders inspiriert haben?

Zwei aktuelle Projekte am Fraunhofer IFF faszinieren mich besonders: Das eine ist ein neues, universell einsetzbares System zur Identifikation von Produkten und Rohstoffen in Produktions- und Logistikprozessen. Es setzt auf die Kombination verschiedener intrinsischer Identifikationsmethoden und den Einsatz künstlicher Intelligenz und schafft eine "virtuelle DNA" eines Objekts. Es erhöht die Fälschungssicherheit und kann herkömmliche Methoden wie Barcodes, Etiketten oder RFID ersetzen. In dem zweiten Projekt arbeiten wir daran, die Digitalen Zwillinge von Produkten, Anlagen, einer Fabrik und sogar der Lieferkette zu einer "Digitalen Familie" zu verbinden. Das ist eine riesige Herausforderung, aber die ersten Ergebnisse können sich sehen lassen: Vermeidung von Maschinenausfällen, Nachverfolgbarkeit sicherheitskritischer Teile bis hin zu einer Halbierung von Engineering-Aufwänden.

Das Interview führte Sandra Lehmann.

Eine kompakte Version des Gesprächs finden Sie in der LOGISTIK HEUTE-Ausgabe 3/2021, die am 26. März erschienen ist.