Interview: „Logistik kann die Wirtschaft grundlegend transformieren“

LOGISTIK HEUTE im Interview mit Klaus Krumme, Geschäftsführer des Joint Centre Urban Systems.

Klaus Krumme, Geschäftsführer Joint Centre Urban Systems (JUS) an der Universität Duisburg-Essen. (Foto: JUS)
Klaus Krumme, Geschäftsführer Joint Centre Urban Systems (JUS) an der Universität Duisburg-Essen. (Foto: JUS)
Sandra Lehmann

Dass Wirtschaft und Gesellschaft ökologischer werden müssen, hat nicht zuletzt die wiederaufgeflammte Präsenz des Themas durch die Klimabewegung in 2019 gezeigt. Welche Rolle die Logistik hier spielen kann, hat LOGISTIK HEUTE den Umweltwissenschaftler Klaus Krumme gefragt, Sprecher des EXCHAINGE-Programmkommitees und Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Joint Centre Urban Systems an der Universität Duisburg-Essen. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragestellungen zur Nachhaltigkeit in der Logistik.

LOGISTIK HEUTE: Herr Krumme, welchen Stellenwert hat Nachhaltigkeit in der Logistik?

Klaus Krumme: Jedenfalls noch keinen ausreichenden. Das gilt vor allem für ihre notwendigen Wirkungen in das Wirtschaftssystem hinein. Die existierenden Ansätze sind noch nicht geeignet, eine umfassende Strategie zu beschreiben, geschweigen denn zu notwendigen Zielen einer klimaneutralen Wirtschaft in Deutschland bis 2050, gemäß den nationalen und internationalen Verpflichtungen, beizutragen. Vergessen wir nicht, dass wir angesichts des Klimawandels unter Zeit- und Leistungsdruck stehen. Wir müssen in zehn Jahren die Treibhausgase in Deutschland gegenüber 1990 um 55 Prozent verringert haben. Der für die Logistik sehr relevante Verkehrssektor hat es in 30 Jahren nicht geschafft auch nur ein Prozent der Treibhausgase einzusparen. Einsparungen um rund die Hälfte der Verkehrsemissionen müssen nun in den kommenden 10 Jahren erfolgen.

Wie können wir diese Ziele erreichen?

Wir dürfen uns nicht auf einzelne Maßnahmen verlassen, sondern brauchen Mut, um fundamentale Veränderungen einzuleiten. Dabei geht es um Systemhebel, Prioritäten und einen deutlich kreativeren Umgang mit den Herausforderungen. Eine grundlegende Steuerung liegt dabei in der Preisbildung von Produkten und Dienstleistungen, um angemessen ökologische Kosten der Gesellschaft in Wertschöpfung einzubinden. Der jüngst beschlossene Einstieg in eine CO2-Bepreisung ist so ein Beispiel. Leider hat die Bundesregierung hier nicht entschlossen genug gehandelt. Solche Hebel müssen neben der Zurückdrängung nicht-nachhaltiger Wirtschaftsprozesse immer auch eine positive Entwicklung effektiv fördern.

Und was heißt das für die Logistik?

Zunächst bedeutet es, dass wir die stockende Verkehrswende im Güterverkehr realisieren und zu einem nachhaltigen Modal Split der Verkehrsträger und einer darauf ausgerichteten Infrastruktur kommen müssen. Geschäftsmodelle in der Logistik müssen sich darüber hinaus stärker an einer zirkulären Wirtschaft als an klassischem Transportgewerbe orientieren, um Zukunftsperspektiven zu schaffen. Vor allem aber haben wir noch nicht genügend konkrete Vorstellungen, was die Position von Supply Chain Services in einem digital und nachhaltig transformierten Wirtschaftssystem angeht. Wir unterschätzen hier den Stellenwert der Logistik, nämlich das System grundlegend zu transformieren. Die Logistik beinhaltet leistungsbestimmende Services für alle anderen Bereiche. Wertschöpfung wird an vielen Stellen durch sie erst ermöglicht. Wir müssen also definieren, was Logistik zu nachhaltiger Wertschöpfung beiträgt, wie Supply Chains des nachhaltigen Wirtschaftens funktionieren.

Wer ist aus Ihrer Sicht in der Pflicht, einen Wandel in Supply-Chain-Prozessen einzuleiten?

In der Pflicht sind erstmal alle. Angefangen beim Konsumenten, über die Dienstleister, den Handel und die Produzenten bis hin zur Wissenschaft. Aber in letzter Zeit ist glücklicherweise immer mehr darauf hingewiesen worden, dass effektives Handeln dieser Gruppen neuer Rahmenbedingungen bedarf. Ob wir die notwendigen schnellen Erfolge haben werden, hängt nicht allein von der Kreativität von Unternehmen oder Technologieentwicklern oder Konsumenten, sondern eben auch von verantwortungsvoller politischer Rahmensetzung ab. Die großen Systemhebel gibt es ohne eine zukunftsorientierte Gesetzgebung nicht. Aber nicht nur Gesetze und Regelungen sind hier entscheidend. Wir brauchen einen lebendigen Diskurs. An dem sind wir alle beteiligt. Ich wäre allerdings glücklich, wenn er auch auf der Ebene von Politik und Interessenvertretungen mit Verantwortung geführt und vorgelebt werden könnte. Dieser Diskurs muss dann erlebbar und beispielgebend sein, nicht nur in der EU oder im Bund, sondern auch in den Ländern bis hinein in die Gemeinden.

Findet auch in der Logistik gerade der Wandel statt, der in den Medien gezeigt wird oder hängt der Bereich hinterher?

Der notwendige Wandel wird noch nicht gezeigt. Er wird nur eingefordert, und das zurecht. Die Diskussion hat sich zugespitzt, was wichtig ist. Man könnte also auch sagen, die Logistik hängt gemessen an den tatsächlichen Herausforderungen nicht viel mehr hinterher als andere Brachen und Wirkungsbereiche. Ich kenne aber viele Logistiker in unterschiedlichsten Servicebereichen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, Prioritäten setzen wollen und auch die notwendigen Ideen haben.

Welche positiven Beispiele gibt es bereits?

Zuletzt war ich sehr beeindruckt von einem Start-Up, das global operierenden Unternehmen in Handel und Produktion hilft, Nachhaltigkeitspotenziale in der „Deep Supply Chain“ aufzudecken und in Supply Chain Planning umzusetzen. Genauso machen mir aufkommenden Spezialisten der letzten urbanen Meile Mut. Diese bringen sich gerade in die Diskussion um Local Commerce Platforms und ihre neuen logistischen Services in Städten ein. Das ist deshalb besonders relevant, weil die erste und letzte Meile im Nachhaltigkeitskontext der Logistik weiter an Bedeutung gewinnen wird. Hier wird es entscheidend sein, Insellösungen durch Gesamtlösungen zu ersetzen. Auch branchenweise tut sich was: Kreative Köpfe im Fashion-Bereich zeigen auf, wie wir nicht nur Closed Loop Supply Chains im Lebenszyklus von Kleidung etablieren, sondern für Kunden Transparenz und Tracebility über Nachhaltigkeit erzeugen können. Auch in Bundes- und Landesbehörden hat man zunehmend erkannt, dass es wichtig ist, ein logistisches System stärker in die Raum- und Entwicklungsplanung zu integrieren. Ein gutes Beispiel dafür sind die neuen Strategien des Nachhaltigen Wirtschaftens an und mit Häfen. Es fehlt aber noch an entscheidenden Durchbrüchen und auch Erfolgsgeschichten müssen viel prominenter gespielt werden.

Welche Maßnahmen wären angemessen schnell umzusetzen, wenn Anreize stimmen?

Alle genannten und einige mehr. Sie laufen ja schon, müssen aber weiterwachsen. Erst kürzlich habe ich gesehen, wie ein Hafenbetreiber innerhalb eines Jahres Sektorkopplung mit Industriepartnern für Abwärmenutzung zugunsten des Betriebs einer nachhaltigen Kühlkette etabliert hat. Supply-Chain-Alternativen, die aus solchen Maßnehmen erwachsen sind hoch interessant aus Sicht der Nachhaltigkeit, sie dürfen aber kein Einzelfall bleiben. Das braucht Engagement, keine Zauberei und in vielen Fällen nicht einmal Forschung. Wichtig ist, die Rahmenbedingungen für diese Innovationsführer besser zu gestalten. Die Besten und Kreativsten müssen Wachstumschancen haben.

Für welche Vorhaben werden wir Zeit brauchen?

Die wirklichen Potenziale der Digitalisierung für das Nachhaltige Wirtschaften zu nutzen wird genauso Zeit benötigen wie die Verkehrswende auch im Gütertransport umzusetzen. Ein nachhaltiger Modal Split wird sich nicht morgen realisieren lassen, auch wenn es notwendig wäre. Wir haben hier entscheidende Zeit verloren. Auch die Kollaboration in der letzten Meile ist dringend notwendig, ich sehe aber noch nicht, wie wir sie in den kommenden Jahren erreichen. Wir brauchen auch hier neue Standards, die sich allerdings nicht über Nacht finden lassen. Dass einige Entwicklungen leider länger dauern, heißt aber nicht, dass wir sie vernachlässigen dürfen. Vorsicht ist deshalb auch geboten, wenn es vorschnell heißt, bestimmte Technologien seien nicht realistisch umsetzbar: Wir immer auch überlegen, welche nicht kalkulierbaren Risiken auf uns zukommen, wenn wir die Pariser Klimaziele nicht einhalten.

Wird es ohne Verzicht, zum Beispiel auf Marge, gehen?

Klar muss sein, dass diese Transformation nicht ‚easy going‘ ist. Ja, enge Margen in bestimmten Bereichen werden weiter schrumpfen, aber in anderen Bereichen notwendigerweise steigen. Es ist schon heute so, dass diejenigen mit wissensintensiven Value-Added-Services in der Logistikwirtschaft mehr Geld verdienen als die mit klassischen Transportdienstleistungen. Der Faktor Transport wird sicher weiter belastet, insbesondere in einem nicht zukunftstauglichen Modal Split. Und ja, unsere Gesellschaft, und auch jeder Einzelne wird sich die Frage beantworten müssen, wann ein „Mehr“ oder „Schneller“ keine echte Verbesserung mehr erzielt. Konsum –egal von was- trifft auf irgendwann auf harte natürliche Grenzen. Die müssen wir respektieren. Also muss sich auch das nachfragende System ändern und zu ökologisch machbaren Konsumannahmen kommen. Das wird ein neues Gleichgewicht von Demand und Supply zur Folge haben.

Wie wird sich das Thema Nachhaltigkeit in den kommenden Jahren aus Ihrer Sicht auf den Wirtschaftszweig Logistik auswirken?

Nachhaltigkeit wird das bestimmende Thema werden. Es wird Schlagwörter wie die Digitalisierung, Autonomisierung oder Automatisierung einfangen und ihnen eine Richtung geben. Wir haben zuletzt intensiv die Künstliche Intelligenz oder die Blockchain diskutiert. In allen Technologiekonzepten liegen riesige Potentiale, die wir für auf ihre Nachhaltigkeitswirkung hin ausrichten müssen. Insofern kann die Logistik dies aktiv mit herbeiführen und sollte es auch im eigenen Interesse unbedingt auch tun.

Die Fragen stellte Sandra Lehmann.

Eine kompakte Version des Interviews lesen Sie Ausgabe 1-2/2020 von LOGISTIK HEUTE, die am 19. Februar 2020 erschienen ist.

Sie möchten Klaus Krumme live erleben und mit Ihm und weiteren spannenden Referenten zum Thema Letzte Meile diskutieren? Dann verpassen Sie nicht das TradeWorld-Forum "Neue Ideen für nachhaltige urbane Logistik gefragt", das am 12. März 2020, von 14.00 bis 15.15 Uhr auf dem Forum T im Atrium der Messe Stuttgart stattfindet. Moderiert wird das TradeWorld-Forum, das im Rahmen der LogiMAT 2020 veranstaltet wird, von LOGISTIK HEUTE-Chefredakteur Matthias Pieringer und Melanie Endres, Redakteurin LOGISTIK HEUTE.