Erdgas: Simulation analysiert Defizite im Pipelinenetz

Falls Russland die Gaslieferungen nach Europa komplett einstellt, was passiert dann? Fraunhofer IEG, Fraunhofer SCAI und TU Berlin haben die Situation mithilfe einer Modellierung des Gasnetzes analysiert.

Was passiert, wenn sich der Hahn für russiches Erdgas komplett schließt? Forscher haben die Situation mittels einer Modellierung des Gasnetzes unter die Lupe genommen. (Symbolbild; Foto: Photocreo Bednarek/AdobeStock)
Was passiert, wenn sich der Hahn für russiches Erdgas komplett schließt? Forscher haben die Situation mittels einer Modellierung des Gasnetzes unter die Lupe genommen. (Symbolbild; Foto: Photocreo Bednarek/AdobeStock)
Matthias Pieringer

Sollten die russischen Erdgasimporte in den nächsten Monaten entfallen, könnte das Gasnetz im kommenden Winter in Europa nur 75 Prozent des Bedarfes decken, der im vorhergehenden Winter geherrscht hat. Das Defizit ist infrastrukturell bedingt – selbst bei ausreichender Verfügbarkeit von Erdgas fehlen LNG-Terminals und Pipelines, um das Gas in Europa anzulanden und zu verteilen. Dies ist das Ergebnis des am 14. Juli vorgestellten Gutachtens von Fraunhofer IEG, Fraunhofer SCAI und TU Berlin im Auftrag des Projekts „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) von Acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften.

„Die infrastrukturell bedingte Versorgungslücke kann bis 2025 geschlossen werden, wenn der Erdgasverbrauch europaweit um 20 Prozent sinkt und gleichzeitig die Infrastruktur ausgebaut wird“, so Prof. Dr. Mario Ragwitz, Leiter des Fraunhofer IEG. „Doch kurzfristig sind massive Anstrengungen zur Senkung des Erdgasbedarfs notwendig.“

Strömungsmechanische Modellrechnungen

Das Gutachten „Europäische Gasversorgungssicherheit aus technischer und wirtschaftlicher Perspektive vor dem Hintergrund unterbrochener Versorgung aus Russland“ von Fraunhofer IEG, Fraunhofer SCAI und TU Berlin analysiert mit strömungsmechanischen Modellrechnungen, inwieweit der Erdgasbedarf in Europa mit den vorhandenen Infrastrukturen gedeckt werden kann und wie sich Infrastrukturmaßnahmen auf die Versorgungssicherheit auswirken können.

„Für Zeiträume mit Hochlast – also etwa dem durchschnittlichen Verbrauch während einer typischen zweiwöchigen Kälteperiode (definiert entsprechend den TYNDP-DE-Szenarien der europäischen Übertragungsnetzbetreiber) – weist die heutige Erdgasinfrastruktur eine Leistungslücke von etwa 25 Prozent in Europa und etwa 30 Prozent in Deutschland aus (bezogen auf den Verbrauch im Jahr 2021), wenn über die östlichen Pipelines kein russisches Erdgas mehr geliefert wird“, heißt es in einer vom Fraunhofer IEG veröffentlichten Pressemitteilung zu dem Gutachten.

Infrastruktur nicht ausreichend

„Die Leistungslücke besteht selbst bei einer vollständigen Befüllung der Erdgasspeicher und ist durch die Infrastruktur des Netzes bedingt. Über die vorhandenen Terminals und Leitungen lässt sich nicht genügend Gas verteilen, selbst wenn ausreichende Mengen an Erdgas aus anderen Quellen für den europäischen Markt zur Verfügung stünden. Es fehlen mittelfristig leistungsfähige Pipelines für den Import und LNG-Terminals, um größere Erdgasmengen aufnehmen zu können. Die infrastrukturell bedingte Versorgungslücke bezogen auf die Jahresmenge von Erdgas wird etwas kleiner sein, aber in einer ähnlichen Größenordnung liegen. Dies bedeutet, dass auch über das Jahr gerechnet nicht genügend Erdgas in Europa angelandet und verteilt werden kann, wenn der Verbrauch nicht reduziert wird“, heißt es weiter.

LNG-Terminals an der Ostsee

Der Bau von LNG-Terminals könne wesentlich dazu beitragen, die Versorgungssicherheit in Deutschland und Europa zu gewährleisten. „LNG-Terminals an der Nordsee konkurrieren jedoch mit dem norwegischen Pipeline-Gas um Netzkapazitäten und tragen zu einer hohen Netzauslastung bei. Da das Gasnetz in Nordostdeutschland wesentlich weniger ausgelastet ist und hier bei Lieferstopp kein russisches Gas mehr eingespeist würde, empfehlen sich aus infrastruktureller Sicht Standorte an der Ostsee für den Aufbau von LNG-Terminals“, so die Mitteilung.

Leistungslücke schließen

Den Angaben zufolge sind langfristig bis 2025 zwei Effekte zu erwarten, die die Leistungslücke schließen können: „Zum einen lässt sich durch einen Ausbau der Erdgasinfrastruktur mehr Erdgas transportieren. Zum anderen ist aufgrund der Transformation des Energiesystems ein klimaschutzbedingter Rückgang des Erdgasbedarfs zu erwarten. Der bereits geplante Ausbau der Infrastrukturen bis zum Jahr 2025 könnte die Leistungslücke in Hochlastzeiträumen in Europa auf 20 Prozent reduzieren. Parallel erwarten die europäischen Übertragungsnetzbetreiber, dass der Erdgasverbrauch in Europa bis 2025 um 20 Prozent sinkt, wenn die ambitionierten Klimaschutzmaßnahmen wie ein starker Ausbau der Erneuerbaren, ein breiter Einsatz elektrifizierter und effizienter Anwendungstechnologien (beispielsweise Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen) sowie ein starker Ausbau der Stromnetze wie geplant umgesetzt werden.“

Zur Methodik

Das Gutachten hat die Auswirkungen eines kompletten Stopps der Erdgaslieferungen aus Russland für Deutschland und Europa simuliert. Ausgangspunkt der Analyse ist ein Transportmodell zur Leistungsbilanzierung der Flüsse zwischen den einzelnen Ländern. Die maximalen Kapazitäten an der Schnittstelle werden dabei als Nebenbedingungen vorgegeben, ebenso wie die Obergrenzen für die Erdgasförderung sowie die LNG- und Pipeline-Importe der einzelnen Länder einschließlich der erwarteten Produktionsmengen.

Zur Berechnung der Gasströme im darauf aufbauenden Flussmodell kam die bei Fraunhofer SCAI entwickelte Simulationssoftware „MYNTS (Multiphysical Network Simulator)“ zum Einsatz.