Lexikon der Logistik
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Volkswagen setzt in seiner kürzlich im Werk Wolfsburg eröffneten „Lernwerkstatt Logistik“ auf einen neu entwickelten Fahrsimulator für Flurförderzeuge.
Sebastian Saschenbrecker fährt auf seinem Stapler durch die Halle 55 im Wolfsburger Werk der Volkswagen AG (VW). Nähert sich ein Hindernis, weicht er aus. So weit ist das nichts Besonderes für den Logistiker. Nur ist er gar nicht im echten Lager unterwegs, sondern er trainiert die sichere Fahrt in einem Simulator. „In der Software sind die Logistikhallen 55 und 54 sowie angrenzende Bereiche wie die Bahn- und Lkw-Verladung eins zu eins abgebildet“, erklärt Tobias Kubsch, Unterabteilungsleiter Technik & Service der operativen VW-Logistik. Der 38-Jährige ist Projektleiter der „Lernwerkstatt Logistik“, die der Autobauer im Juni 2013 eröffnet hat. Sie ist Teil des Produktionssystems „Volkswagen- Weg“, das VW seit 2007 einführt. „Nach unseren Erfahrungen besteht ein sehr großes Interesse an Schulungsmöglichkeiten und Methoden, Logistikmitarbeiter zu qualifizieren, da auch die realen Logistikprozesse und Arbeitsplätze komplexer und zunehmend anspruchsvoller werden“, sagt Kubsch. Er selbst ist seit 1992 bei VW tätig. Seine Karriere begann mit einer Ausbildung zum Maschinenbautechniker. Später machte er berufsbegleitend seinen Betriebswirt an der VWA Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie Essen gemeinnützige Gesellschaft mbH.
Zu seiner Tätigkeit in der operativen VW-Logistik gehört es unter anderem, Projekte im Bereich Aus- und Weiterbildung zu begleiten. Ziele der Lernwerkstätten sind es, Expertenwissen aus den Fachbereichen einzubeziehen, Qualifizierungsund Arbeitsprozesse zusammenzuführen und neue Lernformen zu entwickeln. Um das Erfahrungswissen zu erhalten, stehen vor allem Themen wie Ergonomie und Demografie im Fokus. Die Vorlage für die neue Lernwerkstatt in Wolfsburg lieferte das VW-Werk in Bratislava. Dort entstand bereits vor zwei Jahren der Konzernstandard, der nun auch an den anderen Standorten ausgerollt werden soll. Im Unterschied zu Wolfsburg trainieren die Fahrer am slowakischen Pilotstandort aber auf echten Staplern und Schleppern.
Der Grund: „Wegen des Neuanlaufs des Golf A7 fehlt es uns in Wolfsburg an Fläche. Und unsere Lernwerkstatt ist im zweiten Obergeschoss, wo wir nicht mit schwerem Gerät hineinfahren können“, erklärt Kubsch. Reinhard de Vries, Leiter der Werklogistik, ergänzt: „Während des laufenden Betriebs Transport- oder Beladungsaktivitäten zu trainieren, würde bedeuten, Störungen und Gefahren in Kauf zu nehmen. Das kam für uns nicht in Betracht.”
Platzmangel in Wolfsburg
Deshalb wurde in Wolfsburg eine andere Lösung gesucht. Schließlich kam dem Projektteam die Idee, einen Simulator zu nutzen. Doch trotz ausgiebiger Marktrecherche fand sich kein Flurförderzeugsimulator, mit dem sich realitätsnah trainieren lässt. Deshalb entwickelte VW gemeinsam mit dem Hersteller, der Bestsim GmbH aus Perleberg, vom Winter 2011 bis zum Frühjahr 2013 ein neuartiges Gerät. Projektpartner waren die Hamburger Still GmbH, die Komponenten für das Staplermodul lieferte, und die Hamburger Jungheinrich AG, Komponentenlieferant für das Sitzschleppermodul. Beide Module sind nachgebaute „echte“ Geräte, die auf das Grundgestell des Simulators gesetzt werden und als Fahrerstand dienen. Die Bandbreite der Fahrzeuge lässt sich beliebig erweitern.
Fahrzeug und Fahrer befinden sich während des Trainings in einem würfelartigen, abgeschlossenen Raum, dem „Fünf- Seiten-Cave“. Eine Projektion auf fünf Seiten zeigt dem Trainierenden – wahlweise in 2D oder 3D – seine Arbeitsumgebung, inklusive einer Rundum- und Überkopfsicht sowie der Projektion nach hinten.
Ein Infrarot-Headtracking-System soll die Fahrsituation noch realistischer darstellen, indem es die Kopfstellung des Fahrers in die Simulation einbindet. Beim Blick um ein Hindernis passtsich die Visualisierung räumlich an. Um auch das Beschleunigen, Kurvenfahrten oder starkes Bremsen fühlbar echt zu simulieren, gibt es eine bewegliche Plattform, die sechsachsige „Motion-Base“. Sie spiegelt die Fahrphysik wider, indem das Fahrzeug kippt, neigt oder dreht. Ein Trainer verfolgt vom Leitstand aus das Verhalten des Fahrers und kann gegebenenfalls direkt korrigieren. Neben Querverkehren und weiteren Störfaktoren lassen sich mit dem Simulator verschiedene Fahrbahnbeläge und unebene Oberflächen simulieren. Auch unterschiedliche Lasten lassen sich darstellen.
Ein Trainingsdurchlauf im Simulator ist unterschiedlich lang – je nach Zielgruppe lassen sich Schwerpunkte setzen. Es können kurze Trainingszyklen von fünf bis zehn Minuten geladen werden, die einen Arbeitsgang abdecken. Große Szenarien dauern dagegen bis zu einer Stunde. „Uns fehlt zwar noch die Praxiserfahrung, aber zunächst peilen wir Trainingssequenzen von 20 bis 30 Minuten an“, so Kubsch. Den Simulator in Wolfsburg können die Mitarbeiter aller VW-Standorte buchen, um dort zu trainieren. „Das Feedback, das wir bisher bekommen haben, war phänomenal gut“, sagt Kubsch. Zudem fallen im Vergleich zu einem echten Trainingsfuhrpark keine Kosten für die Anschaffung der Fahrzeuge, den Kraftstoff, das Laden von Batterien oder für Reparaturen und Verschleiß an. Die Fahrschule mit richtigen Staplern soll der Fahrsimulator aber nicht ersetzen, betont der Experte. Ob auch andere VW-Standorte Simulatoren erhalten, wenn sie ihre Logistik- Lernwerkstätten einrichten, sei noch offen. Derzeit plane Bestsim, den Simulator auch anderen Anwendern am Markt anzubieten. Außerdem tüfteln die Entwickler laut Kubsch bereits an einem mobilen Gerät.
Anja Kiewitt
Volkswagen
Die Volkswagen AG (VW) ist ein Automobilhersteller mit Sitz in Wolfsburg. Der Umsatz lag im vergangenen Geschäftsjahr bei 192,7 Mrd. Euro. Ohne die Tochtergesellschaften sind rund 101.800 Mitarbeiter bei VW beschäftigt.
Dieser Artikel erschien in der LOGISTIKHEUTE-Ausgabe 7-8/2013
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