Logistik Wörterbuch
Wir stellen Ihnen ein umfangreiches Logistik-Wörterbuch zur Verfügung, für Deutsch - Englisch und Englisch - Deutsch.
SCM:
Analyse und Optimierung der Supply Chain am Beispiel der Degussa AG.
SCOR-Analysen zur Supply Chain Optimierung in der Chemieindustrie.
Ein bereichsübergreifendes Team vergleicht bei Degussa die realen Abläufe mit dem SCOR-Modell. Ergebnis: Verbesserungspotenziale werden entdeckt und umgesetzt.
Autoren:
Dr. Jörg Krissmann und Markus Schulz, Verfahrenstechnik & Engineering,
Johann Schwindt, Aerosil & Silanes
Dr. Franz Merath, Inhouse Consulting, alle Degussa AG
Die Optimierung globaler Wertschöpfungs- und Logistikketten ist eine wichtige Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit chemischer Unternehmen und sie gewinnt zukünftig weiter an Bedeutung. Neben der unternehmensübergreifenden Integration von Lieferanten und Kunden ist die interne Integration des Material- und Informationsflusses innerhalb eines Unternehmens über Organisationsbereiche und Regionen hinaus eine wesentliche Aufgabe. Von der globalen Verfügbarkeit logistischer Daten, wie Aufträge, Bestände oder Lieferungen, über entsprechende ERP-Systeme kann heutzutage in der Regel ausgegangen werden. Hinter den Daten liegen jedoch Geschäftsprozesse und operative Abläufe, die häufig historisch gewachsen und vielfach lokal optimiert wurden. Entsprechend der Idee des Supply Chain Managements führen solche Optimierungen jedoch nicht automatisch zu einem Gesamtoptimum für das Unternehmen. Häufig sind die Zielsetzungen lokaler Optimierungen sogar widersprüchlich. So wird die Produktion stets auf Vereinfachung und wenig Kampagnenwechsel dringen, während das Marketing einen Wettbewerbsvorteil gerade in der Diversifizierung und schnellen Reaktionsfähigkeit auf den Kundenwunsch sieht. Eine ganzheitliche und systematische Verbesserung von Geschäftsprozessen und Abläufen erfolgt daher am besten in einem interdisziplinären Team mit Prozessbeteiligten entlang der gesamten Supply Chain, vom Einkauf, über die Produktion bis zum Marketing und Vertrieb. Das Ziel der Prozessanalyse und gegebenenfalls -änderung ist die Erhöhung des Lieferservicegrades bei gleichzeitiger Reduzierung von Logistikkosten und Umlaufvermögen. Wie kann nun die Kommunikation zwischen den Prozessbeteiligten und die Aufnahme des Ist-Zustandes möglichst effektiv erfolgen? Die Antwort lautet: Über die gemeinsame Verwendung eines Referenzmodells, wie dem SCOR-Modell, das eine allgemeingültige Beschreibung von Abläufen zur Verfügung stellt.
SCOR-Modell
SCOR (Supply Chain Reference Model) ist ein Prozessreferenzmodell, das vom Supply Chain Council, einem branchenübergreifenden Zusammenschluss von mehr als 1000 Industrieunternehmen, zum ersten Mal 1996 vorgelegt und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt wurde. Das SCOR-Modell umfasst eine standardisierte Beschreibung aller Tätigkeiten entlang der Supply Chain, vom Auftragseingang über die Beschaffung der Rohstoffe und Produktion bis hin zur Distribution und dem Eintreffen des Produktes beim Kunden. Es besitzt eine Ebenenstruktur und damit die Möglichkeit einer stufenweisen Erhöhung des Detaillierungsgrades. Die oberste Ebene (Ebene 1) unterscheidet dabei lediglich zwischen den Prozessen SOURCE (S), MAKE (M), DELIVER (D), RETURN (R), ENABLE (E) und PLAN (P). In Ebene 2 wird jeder Prozess zusätzlich in sogenannte Prozesskategorien eingeteilt. Für MAKE sind dies die kundenanonyme Produktion (M1=Make-to-Stock), die auftragsbezogene Produktion (M2=Make-to-Order) und die auftragsbezogene Produktentwicklung (M3=Engineer-to-Order). Ebene 3 enthält schließlich eine weitere Auflösung der Prozesskategorien in einzelne Prozesselemente, z.B. der Produktionsfeinplanung (M1.1) im Rahmen der Prozesskategorie "Make-to-Stock" (M1). Für jede Ebene werden im SCOR Modell neben der Definition des Prozessschrittes auch Kennzahlen zur Performancemessung und Empfehlungen zu Best Practices vorgeschlagen.
Der Vergleich des Referenzmodells SCOR mit den real vorgefundenen Verhältnissen im betrachteten Geschäftsbereich erlaubt eine strukturierte und effiziente Ist-Aufnahme für die Supply Chain. Das folgende Beispiel der Degussa AG zeigt, wie die Umsetzung in die Praxis erfolgt.
Methodisches Vorgehen im Projekt
Das operative Geschäft der Degussa AG verantworten die fünf Unternehmensbereiche Bauchemie, Fein- und Industriechemie, Performance Materials, Coatings & Füllstoffsysteme und Spezialpolymere. In diesen divisionalen Einheiten sind 21 Geschäftsbereiche zusammengefasst. Die hier beschriebenen SCOR-Analysen wurden jeweils innerhalb eines Geschäftsbereichs oder seltener als Regionenprojekt mit mehreren beteiligten Bereichen durchgeführt. Der Umsatz der jeweils betrachteten Teileinheit lag typischerweise zwischen 40 und 100 Millionen Euro. Um die dargestellten unterschiedlichen Sichtweisen auf die Anforderungen und Probleme der Supply Chain zu gewährleisten, sind Mitarbeiter aus den Bereichen Marketing, Produktion, Anwendungstechnik, Controlling, Einkauf und Logistik an den Projekten beteiligt. Die Bearbeitung erfolgt in einer Sequenz aus mehrtägigen Workshops, die durch einen internen Berater moderiert werden. Zu Beginn des Projektes erfolgt eine eintägige Schulung um alle Teammitglieder auf den gleichen Wissensstand hinsichtlich Supply Chain Management, SCOR-Terminologie und Bewertung über den Economic Value Added (EVA) zu bringen. Anschließend werden die aktiven Produkte des betrachteten Bereiches in drei bis vier Produktgruppen mit vergleichbarer Supply Chain eingeteilt. Sinnvolle Unterscheidungen sind z.B. die Art der Produktion, d.h. vorwiegend kundenneutral oder auftragsbezogen, die verwendeten Gebinde (Ein- oder Mehrweg) oder spezielle Anforderungen an den Transport (z.B. gekühlte Chemikalien). Die Musterabwicklung und die Engineer-to-Order-Produkte, die typischerweise gemeinsam mit dem Kunden in Pilotanlagen entwickelt werden, sind weitere Beispiele für eigene Produktgruppen. Für jede Produktgruppe wird anschließend der physikalische Materialfluss von den Lieferanten über die Produktion und Lagerung bis zu den Hauptkunden oder regional zusammengefassten Kundengruppen aufgenommen. Diese häufig sehr komplexen Zusammenhänge lassen sich in sogenannte Thread-Diagramme übersetzen und auf diese Weise übersichtlich visualisieren. Bild 1 zeigt ein solches Thread-Diagramm für einen sehr einfachen fiktiven Fall:
Neben dem Material- ist auch der Informationssfluss von Bedeutung, der eng mit der Aufbau- und Ablauforganisation verknüpft ist. Auch dieser lässt sich auf Basis des SCOR-Modells schnell und effizient erfassen. Hierzu werden die Prozesselemente der Ebene 3 den Organisationseinheiten in der betrachteten Supply Chain zugewiesen. Als Ergebnis erhält man eine Matrixdarstellung für die Zuordnung aller Aktivitäten entlang der Supply Chain zu den Abteilungen oder Gruppen innerhalb der betrachteten Organisationseinheit. Aus dieser Darstellung lässt sich erkennen, wer die Abläufe maßgeblich steuert und wo redundante Abläufe oder unklare Zuständigkeiten vorliegen. Mit den Thread-Diagrammen und der Aktivitäts-Abteilungsmatrix ist die Struktur der Supply Chain in erster Näherung hinreichend beschrieben. Sie erlauben allerdings noch keine Aussage über ihre Performance. Hierzu dient die Aufnahme des EVA-Treiber-Diagramms, das für einen exemplarischen Fall in Bild 2 dargestellt ist, und die Berechnung der SCOR-Kennzahlen der Ebene 1.
Der Economic Value Added kombiniert Informationen aus der Gewinn- und Verlustrechnung (Umsatz, Kosten, EBIT) mit solchen aus der Bilanz (NWC, Anlagevermögen), die über die Kapitalkosten berücksichtigt werden, und ist somit die ideale Zielgröße zur Ist-Analyse und späteren Bewertung der Verbesserungsmaßnahmen. Ergänzend zu dieser Short-Cut Finanzanalyse werden standardmäßig die Performancekennzahlen der Ebene 1 des SCOR-Modells aufgenommen. Diese ermöglichen eine quantitative Beurteilung der Supply Chain hinsichtlich der fünf SCOR-Kriterien "Reliability", "Flexibility", "Responsiveness", "Costs" und "Assets". Die Größenordnung der Kennzahlen gibt Hinweise auf die Performance. Ein exaktes Benchmarking ist, selbst innerhalb von Organisationseinheiten eines Chemiekonzern, infolge unterschiedlicher Herstellprozesse oft sehr schwierig. So ist beispielsweise die thermische Aufreinigung über chromatographische Trennverfahren systemimmanent mit höheren Beständen an Zwischenprodukten verbunden. Monoanlagen mit großen Durchsätzen haben demgegenüber häufig einen vernachlässigbaren Bestand an verpackten Fertigwaren und werden in ihrer Kostenstruktur eher über die variablen Kosten bestimmt, ganz im Gegensatz zu kundenindividuellen Spezialchemikalien bei denen allerdings der Entwicklungsaufwand in der Regel höher ist. Dennoch liefert die Größenordnung der Kennzahlen und der Vergleich ihres Wertes zwischen den zuvor definierten Produktgruppen Hinweise auf kritischen Prozesse, die über geeignete Detailananalysen näher zu untersuchen sind. Beispiele für Detailanalysen sind die ABC-XYZ Analyse, die Lagerdurchlaufanalyse sowie Untersuchungen zur Anlagenauslastung, zur Fehlerrate, zur Profitabilität von Produkten und zur Ablauforganisation, beispielsweise bei der Auftragsbearbeitung. Außerdem ist es häufig sinnvoll, für ausgewählte Abläufe die Prozesskosten zu bestimmen. Hierdurch wird, über die spätere Definition von Verbesserungsmaßnahmen hinaus, eine wertvolle Transparenz in kostenintensiven Teilabläufen geschaffen. Auf Basis von Supply Chain Struktur, Performance und Detailanalysen werden im Team anschließend Auffälligkeiten gesammelt und diese nach Hauptgruppen sortiert. Für jede Themengruppe werden Verbesserungsmaßnahmen definiert und ihre Auswirkung auf den Economic Value Added quantitativ bewertet, um schließlich zu einer Priorisierung der Hauptthemen bei der Supply Chain Optimierung zu gelangen.
Typische Ergebnisse
SCOR-Analysen wurden bislang in mehr als zehn Geschäftsbereichen der Degussa durchgeführt. Die Bandbreite reicht von Monoanlagen mit mehreren 10.000 Jahrestonnen bis hin zu flexiblen Multi-Purpose Anlagen mit Kampagnenfahrweise. Die Analysen wurden in Bereichen mit kundenanonymer Produktion nach Mindestbestand als auch in Bereichen mit auftragsbezogener Fertigung bis hin zur exklusiven Produktentwicklung mit dem Kunden durchgeführt. Daneben waren chemietypische Besonderheiten wie der Umlauf von produktbezogenen Mehrweggebinden, das Auftreten von Koppelprodukten und Artikelvielfalt durch Sonderspezifikationen ebenso Teil der Untersuchungen. Die Verbesserungsmaßnahmen sind entsprechend vielfältig und reichen von strategischen Empfehlungen zur Anpassung bestehender Prozesse und Abläufe oder zum Produktportfolio, über die Optimierung der Nutzung spezieller ERP-Funktionalitäten in Produktion, Logistik und Auftragsabwicklung bis hin zu alternativen Konzepten für Ab- und Umfüllung und der Planungsoptimierung über die Einführung von Funktionalitäten des Advanced Planning und Scheduling (APS). Nicht die detaillierte Ausarbeitung der Einzelmaßnahmen steht im Mittelpunkt, sondern die Identifizierung, Short-Cut Bewertung und Priorisierung der Verbesserungsmaßnahmen. Erscheint beispielsweise die Nutzung eines APS-Systems zur globalen Netzwerkplanung aufgrund der Komplexität in den Materialflüssen sinnvoll und wurde ein entsprechendes Potenzial im EVA abgeschätzt, so ist die detaillierte Wirtschaftlichkeitsrechnung hierzu eine Maßnahme, die im Anschluss an das SCOR-Projekt erfolgt.
Zusammenfassend gilt, über die Identifikation von Prozessverbesserungen und Einsparpotenzialen hinaus schafft die Aufnahme kritischer Abläufe und ihre Bewertung über Prozesskosten häufig eine wertvolle Transparenz. Um zu einer nachhaltigen Verbesserung der Supply Chain Performance zu gelangen, empfiehlt sich anschließend der Aufbau eines Supply Chain Controllings auf Basis der im Projekt herausgearbeiteten SCOR-Kennzahlen (KPI's).
Abkürzungen: APS Advanced Planning und Scheduling System COGS Cost of Goods Sold, Herstellkosten EBIT Earnings before Interest and Taxes ERP Enterprise Ressource Planning System, z.B. SAP ETO Engineer-to-Order, Produktentwicklung (meist in der Pilotananlage) EVA Economic Value Added FA Fixed Assets KPI Key Performance Indicator, Kennzahl MTO Make-to-Order, auftragsbezogene Fertigung MTS Make-to-Stock, kundenneutrale Fertigung NWC Net Working Capital ROCE Return on Capital Employed ( = EBIT / (NWC+FA) x 100% ) SCM Supply Chain Management SCOR Supply Chain Operations Reference Model SG&A Sales, General and Administration
◂ Heft-Navigation ▸
Lagerhallen, Logistikimmobilien , Logistik-Newsletter , KEP-Dienste , Container, Paletten , Intralogistik & Supply Chain Management (SCM) , Verpackung & Verladung , Versand, Umschlag & Lieferung , Luftfrachtverkehr , Gabelstapler , Fahrerlose Transportsysteme (FTS) , Fashion Logistics , Fördertechnik , Lagertechnik , E-Commerce , Bundesvereinigung Logistik e.V. (BVL) , LogiMAT , Logistik- bzw. Transport-Dienstleistungen , Industrie 4.0 , Neubau (Logistikzentrum) , Digitalisierung & Vernetzung , Logistik-IT , Logistik-Studium , Transport- und Logistik-Dienstleistungen , Kommissionierung