Buchtipps für Logistiker
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Das breite Sortiment vieler Supermärkte bietet Verbrauchern in beinahe jeder Produktgruppe eine enorme Auswahl: Im Schnitt führt ein deutscher Lebensmitteleinzelhändler mit Vollsortiment 20.000 unterschiedliche Artikel. Mit steigender Sortimentsbreite wächst allerdings auch die Zahl an sogenannten „Slow Movern“ – Produkten, die nur selten verkauft werden und entsprechend lange im Regal verweilen. Hersteller solcher Langsamdreher erhalten häufig Nachbestellungen des Handels in unregelmäßigen Abständen. So liegen mal Tage, mal Wochen, mal Monate zwischen den einzelnen Aufträgen. Genaue Vorhersagen des nächsten Bestellzeitpunktes wären bei Slow Movern allerdings besonders wichtig für eine effiziente Produktionsplanung. Oft kollidieren nämlich die Erwartungen des Händlers an eine schnelle und zuverlässige Lieferung mit der beschränkten Haltbarkeit der Produkte.
In einer aktuellen Studie untersuchen die Wissenschaftler Tim Schlaich, Doktorand, und Prof. Dr. Kai Hoberg, Professor für Supply Chain und Operations Strategy von der Kühne Logistics University (KLU), inwieweit Abverkaufsdaten aus Supermärkten die Hersteller bei der Prognose des Bestellzeitpunktes unterstützen können. Ausgehend von der letzten Bestellung des Einzelhändlers könne der Hersteller mithilfe der Point-of-Sale-Daten die Bestände des Einzelhändlers in der Gegenwart und nahen Zukunft schätzen und so den Zeitpunkt der nächsten Bestellung vorhersagen – und das oft genauer als mit den gängigen statistischen Prognoseverfahren.
Für die Studie kooperierten die Wissenschaftler mit einem kleinen Lebensmittelhersteller, der seine Produkte über den Einzelhandel vertreibt. Aufgrund hoher Investitionskosten und aus Sorge vor Datenmissbrauch begrenzen viele Händler den Informationsaustausch auf Bestellungen. Hersteller von Langsamdrehern müssen daher oft wochenlang ohne neue Informationen auskommen.
Idee aus der Meteorologie
Die fehlende Transparenz über die Nachfrageentwicklungen ist laut Tim Schlaich problematisch: „Unsere Daten zeigen, dass sich Nachfrageschwankungen nicht so sehr in variablen Bestellmengen äußern, sondern eher zu unregelmäßigen Abständen zwischen Bestellungen führen.“ Das Problem: Die Hersteller möchten ausreichend Produkte auf Lager vorhalten, müssen aber auch die Haltbarkeit im Blick behalten. Die Information, wann mit der nächsten Bestellung des Einzelhändlers zu rechnen ist, ist daher essenziell. Idealerweise werden die Produkte dann erst kurz vor dem Zeitpunkt produziert, zu dem die Bestellung erwartet wird.
Da direkte Kollaborationsmechanismen wie Vendor Managed Inventory (VMI) im konkreten Beispiel nicht möglich waren, machte sich das Forschungsteam bereits verfügbare Daten zunutze. Einzelhändler erfassen auch für eigene Zwecke Point-of-Sale-Daten. Marktforschungsunternehmen wie Nielsen oder Circana bereiten diese Daten auf und stellen sie gegen Entgelt auch Lieferanten zur Verfügung. Die Daten sind äußerst granular und zeigen, wie häufig sich ein Produkt in einer bestimmten Filiale und an einem bestimmten Tag verkauft. Mithilfe dieser Information kann der Hersteller den aktuellen Bestand des Einzelhändlers schätzen und den Zeitpunkt der nächsten Bestellung vorhersagen. Das Forschungsteam bezeichnet diesen Ansatz als „Nowcasting“, da die Prognose die Gegenwart (=Now) und die unmittelbare Zukunft umfasst.
Ursprünglich stamme diese Idee aus der Meteorologie und sei zuletzt auch im Kontext von Covid-19 verwendet worden, erklärt Kai Hoberg: „Durch Nowcasting kann der aktuelle Status einer Zielvariablen mithilfe von zusätzlichen Indikatoren geschätzt werden. Im Falle von Covid wurden beispielsweise Inzidenzen zur Schätzung der Hospitalisierungsrate herangezogen. Wir nutzen Point-of-Sale-Daten der Einzelhändler, um erst deren Bestände und dann den Zeitpunkt der nächsten Bestellung zu prognostizieren.“ Dabei liege der Fokus auf der Schätzung der Bestände im Zentrallager des Händlers, da dort die Bestellung typischerweise ausgelöst wird, wenn ein Mindestbestand erreicht wird.
In der Analyse waren die Wissenschaftler von unerwartet hohen Abweichungen zwischen Wareneingängen und Abverkäufen im Handel überrascht. Der direkte Vergleich zwischen der gelieferten Menge an den Händler und den Point-of-Sale-Daten über den Untersuchungszeitraum ergab, dass es teils mehr als 20 Prozent der hergestellten Produkte nicht bis zum Endkunden geschafft haben. Diese hohe Schwundrate sei bei „Slow Movern“ üblicherweise höher als für andere Produkte im Lebensmitteleinzelhandel und musste von den Wissenschaftlern im Nowcasting-Modell entsprechend berücksichtigt werden. Die Warenabflüsse mussten korrigiert werden.
Die Beschaffung der Point-of-Sale-Daten kann sich für Hersteller lohnen. Theoretische und empirische Untersuchungen der Studie zeigen, dass der Nowcasting-Ansatz den Bestellzeitpunkt durchschnittlich um zehn bis 20 Prozentpunkte genauer vorhersagt als statistische Methoden, die Unternehmen gewöhnlich nutzen. Der Untersuchung zufolge ist der Mehrwert der Abverkaufsdaten besonders ausgeprägt, wenn der zeitliche Abstand zwischen Bestellungen eher groß ist. In diesem Fall helfen Informationen vom Point-of-Sale, die vergleichsweise große Informationslücke zu schließen.
Auf vieles anwendbar
Laut dem Forscherteam ist die Methode grundsätzlich auf alle „Slow Mover“-Produkte anwendbar, die über mehrstufige Lieferketten ohne direkten Informationsaustausch vertrieben werden. Ökonomisch attraktiver und leichter umsetzbar wäre Nowcasting allerdings, wenn Einzelhändler verfügbare Bestands- und Nachfragedaten kostenfrei mit ihren Lieferanten teilen würden. „Vorherige Studien und unsere Ergebnisse belegen, dass der Informationsaustausch allen Beteiligten in der Lieferkette zugutekommt. Von einer verbesserten Genauigkeit der Prognose und Lieferfähigkeit des Herstellers profitiert letztlich auch der Einzelhändler selbst“, sagt Schlaich.
Hierzu müsse aber den Händlern klar werden, dass sie selbst davon profitieren, wenn sie Herstellern Daten bereitstellen – zu oft werde dies heute als unnötiger Aufwand oder gar Gefahr gesehen. Gleichzeitig müssten die Hersteller es verstehen, die zusätzlichen Daten in ihre Planung einzubauen und die in sie gesetzten Erwartungen an eine höhere Liefertreue erfüllen. sln
An der Studie beteiligt waren Tim Schlaich im Rahmen seiner Doktorarbeit und Prof. Dr. Kai Hoberg von der KLU in Hamburg. Über einen Zeitraum von zwei Jahren analysierten sie eingehende Bestelldaten eines Lebensmittelherstellers sowie Point-of-Sale-Daten auf SKU-Store-Tag-Ebene eines deutschen Einzelhändlers mit einem zentralen Warenlager und 53 Supermärkten. Die Studie wurde in der renommierten Fachzeitschrift European Journal of Operational Research zur Veröffentlichung angenommen.
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