Lexikon der Logistik
Das Logistik-Lexikon mit über 1.000 Einträgen erklärt alle logistikrelevanten Begriffe einfach und verständlich.
Prof. Dr. Stefan Iskan, Professor für Logistik und Wirtschaftsinformatik, insbes. Automotive SCM und Digitalisierung an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen
Wer im Einkauf von Logistikdienstleistungen und auf Seiten ihrer Spediteure und Kontraktlogistikpartner kennt das nicht: Völlig entnervte Disponenten, die nach einer fehlgeschlagenen Auftragsimplementierung den Glauben an ihre eigene berufliche Leistungsfähigkeit verloren haben? Erschöpfte Kontraktlogistik-Projektmanager in Task-Force Teams, die noch versuchen zu retten, was bereits in einer entscheidenden Phase vorher entglitten ist? In der Ausschreibung und dem damit verbundenen Tender Management.
Der Einkauf von Transport- und Logistikdienstleistungen hat 2023 Hochkonjunktur. Die Kostenschrauben werden in Industrie und Handel gerade wieder spürbar angezogen. Und das parallel zur anstehenden Restrukturierung der Supply Chains und geostrategischen Verlagerungsprojekte samt Lokalisierungsstrategie. Rückläufige Volumina bei gleichzeitigem Kostendruck auf allen Stufen. Mit einem zentralen Unterschied: Während gerade wieder der Ratenverfall in der internationalen See- und Luftfracht zu verzeichnen ist, bleibt die Lage auf der Straße perspektiv auf angespannt eingestellt. Darüber können auch aktuelle Ausschreibungsbemühungen von Industrie und Handel im umkämpften Auslastungsmarkt der Transportnetzwerke nicht hinwegtäuschen. Denn allein am Beispiel der Automobilindustrie lässt sich zeigen: Industrie und Handel laufen die willigen Dienstleister weg! Fachkräftemangel hin oder her.
CO2-Komponente bei Lkw-Maut unterschätzt
Die CO2-Komponente auf die Maut wird gerade im Logistikeinkauf aktuell unterschätzt. Bürokratisierung, industrielle ESG-Audits mit geringer Passfähigkeit für Speditions- und Kontraktlogistikprozesse, gestiegene Kosten, Standortumfeld mit einer „Null-Bock Generation im Zulauf“ und Ressourcen-Engpass werden in Kombination mit dieser Entwicklung gerade im inhaber-geführten Transportsektor dazu führen, dass im Jahr 2024 und darüber hinaus die Kapazitäten weiter eingeengt bleiben werden. Vielmehr noch: Das Umfeld könnte dazu führen, dass der ein oder andere Dienstleister sein Geschäft endgültig schließt oder verkauft.
Denn weshalb sollten sich Logistikdienstleister das Geschäftsgebaren in den Ausschreibungen noch länger antun? Nach vorne hin wieder einmal Nachhaltigkeit in den Ausschreibungen predigen und im Tender dann selbst über E-Procurement Systeme nur noch den „Preis zocken“ und für nachhaltige Lösungen samt Antriebstechnologien keinen Cent mehr zahlen wollen. So stellt sich auch im Jahr 2023 das Verhalten oftmals im operativen Transport- und Logistikeinkauf von Industrie und Handel dar. Und das obwohl die Budgets für Notfalltransporte in den internationalen Supply Chains nach wie vor hoch sind.
Strategisch-operative Absicherung gefragt
Aber: Standen im Einkauf bislang die besten Preis-Leistungsrelationen im Vordergrund, sind es eben jetzt die strategisch-operative Absicherung der Verfügbarkeit und Kapazitäten für das Produktions- und Distributionsnetzwerk. Denn der Transport- und Logistikmarkt hat sich seit der Pandemie gedreht. Plötzlich waren die Dienstleister am Drücker. Mancherorts wurde gar schon von „Wild West- Methoden“ gesprochen. Fakt ist: Die willigen Dienstleister laufen den Einkäufern und Supply Chain Direktoren nicht nur in der Automotive Industrie davon. Ein neues Partner-Ökosystem und eine Abkehr vom „Excel Gefrickel“ im strategisch brachliegenden Tender Management sind erforderlich.
Folgen von „Projekt-Infarkten“
Das Herz eines jeden produzierenden Unternehmens ist neben Forschung & Entwicklung die Produktionsplanung. Was dort die Produktionsplanung ist, ist das Tender Management bei den Logistikdienstleistern. Doch in der Praxis liegt dieser strategisch bedeutsame Bereich häufig brach und Dienstleister erleiden regelmäßig schwere „Projekt-Infarkte“. Die Folgen: Feuerwehreinsätze, negative Projektmargen, Reputationsverlust und Frustration in der Organisation. Wer die Erfolgsquoten in Ausschreibungen erhöhen will, muss nicht nur mehr Intelligenz und System in sein Tender Management packen, sondern diesen strategisch bedeutsamen Bereich auf Management-Ebene verankern und eine Kultur der „lernenden und datengetriebenen Organisation“ im Rücken haben.
Ähnlich wie bei einem Produkt-Engineering werden im Tender Management und damit zu Beginn der Ausschreibung Kosten und Profitabilität eines Auftrages festgelegt. Einheiten, die das Key Account und Tender Management sowie die nachgelagerte Implementierungs-Truppe aus einer Hand anbieten, dürften in der Praxis eine höhere Erfolgsquote, aber auch Profitabilität in den Geschäften aufweisen. In dieser Konstellation wird das Erfahrungslernen von Ausschreibung zu Ausschreibung ermöglicht, zudem werden Lernwerte aus der Implementierung in die nächste Ausschreibungsbearbeitung übertragen. Hinzu kommt: Das Organisieren im Vertical Markets oder branchenspezifischen Competence Center ist überholt. Was zählt, ist die Frage: Netzwerk-tauglich oder „Dedicated- Abwicklung“? Und wenn letzteres, dann die Frage: Rechnet es sich Stand-Alone oder nicht? Falls nicht, dann raus mit dem Tender und dem Kunden. Kritisch zu bewerten sind zudem reine Auslastungs-vergütete Cross-Dock-Geschäfte ohne angeschlossene Shuttle-Transporte, die unter der eigenen Dispo-Hoheit und damit der eigenen Auslastungsverantwortung stehen.
Probleme vielfach hausgemacht
Doch wie können Industrie, Handel und ihre Logistikdienstleister in den Outsourcing-Ausschreibungen gegensteuern? Die aktuellen Problemstellungen sind nicht allein Markt-getrieben. Sie sind in vielen Fällen in der Branche hausgemacht. Ein Vergleich zwischen der Industrie und dem Logistikdienstleistungssektor zeigt: CEOs in der Autoindustrie kommen meist aus der Produktionsplanung. Entsprechend ist der Stellenwert dieses Fachbereichs in der Organisation. Zudem würde man dort vermutlich nie sagen: „Lasst uns erst einmal den Kundenauftrag reinholen. Dann sehen wir schon, wie wir das produziert bekommen.“ Doch genau diesen Satz dürften viele Verantwortliche und Mitarbeiter gerade auch bei Logistikdienstleistern nur zu gut kennen.
Denn wo ist das Tender Management bei den Dienstleistern verankert und welche Ressourcen findet man dort vor? Häufig virtuell, als kleines Team in einem Fachbereich aufgehangen und meist mit Nachwuchs-Excel-Cracks“, die das Schicksal haben, zur gleichen Zeit mehrere Ausschreibungen bearbeiten zu müssen. Überstunden, überhöhter Kaffee-Konsum und Fehler in der Excel-Kalkulation sind hier vorprogrammiert. Wenn dann noch Schlüssel-Leute krankheitsbedingt ausfallen, stehen selbst große Logistikkonzerne vor der Frage, wie sie die Ausschreibung überhaupt noch stemmen sollen. Denn dort sind die Ressourcen am engsten bemessen.
Ansätze für höhere Erfolgsquote
Wenn die Erfolgsquote in Ausschreibungen erhöht und die Organisation nachhaltiger aufgestellt werden soll, kann man auf folgenden Ideen aufsetzen:
Ausgequetschte Zitronen
Insgesamt betrachtet gehen Industrie und Handel die willigen Logistikdienstleister aus. Die Zitrone ist ausgequetscht und die Supply Chain bis zum Lkw-Fahrer gegen die Wand gefahren. Industrie 4.0 bedeutet also: mit wenigen Dienstleistern eine Allianz eingehen. Es wird und kann kein Interesse von Industrie und Handel in Zeiten der digitalen Industrialisierung mehr sein, das Spiel des „Supplier & Logistiker-Durchwechselns“ weiter zu spielen. Die Zeitenwende ist allein schon durch den Lkw-Fahrer-Mangel augenscheinlich. Der Lkw-Fahrer hat sich die Industrie selbst entledigt – durch ihre „Geiz-ist-geil“-Ausschreibungspraxis.
Gemeinsam zu Lösungen kommen
Wir müssen Ursachen so klar benennen dürfen. Es hilft kein Herumreden mehr. Nur so können wir in der Supply Chain ehrlich an Lösungen arbeiten. Gemeinsam. Für andere Ansätze sind die Investitionen in eine „Intelligent Supply Chain Enterprise“ der Zukunft viel zu kostspielig – für alle in der Value Chain. Es braucht ein strategisches, nachhaltig-geprägtes Öko-Partnersystem mit wenigen, dafür aber finanz- und leistungsstarken Mitspielern. Kooperieren, Cash absichern und in die Wertschöpfung eingraben. Das ist das Gebot der Stunde.
Von daher gilt der Respekt jedem Unternehmenslenker, der den Weitblick hat und folgende Entscheidung trifft: „Wollen wir bewusst in neue Formen samt vereinfachter Abrechnungsmodelle in unseren neuen Ausschreibungen und Tender-Ressourcen investieren, um unser Ergebnis von Morgen zu sichern – wohl wissend, dass uns diese Entscheidung heute Geld und damit EBIT-Marge kostet? Oder lassen wir es lieber sein und optimieren unsere Kundenstruktur soweit es noch geht – mit dem Risiko, in einigen Jahren festgefahrene Prozesse zu haben, die unter Umständen nicht mehr zukunftsfähig für weitere Aufträge und neue Kunden sind?“
Über den Autor
Prof. Dr. Stefan Iskan hält die Professur für Logistik und Wirtschaftsinformatik, insbes. Automotive SCM und Digitalisierung an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen. Der vormalige Konzernstratege und Direct Report an den Vorstand Land Transport DB Schenker ist seit 2013 persönlicher Berater inhabergeführter Logistikdienstleister, internationaler Logistikkonzerne sowie von Automobilherstellern und deren Tier-1 Suppliern. Prof. Dr. Stefan Iskan ist zudem Founder von supplychainmachine.com.
Tender Management Konferenz 2023
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