Clark-Stapler: Logistik im Vereinigten Königreich lahmt trotz Handelstradition - Hoffnung durch neue Regierung: Der englische Patient

Redaktion (allg.)


Schwache Industriezweige, Wirtschaftsflaute, sinkender Währungskurs: Die Logistik im Vereinigten Königreich lahmt, obwohl sie im Handel ­traditionell stark ist. Jetzt hofft sie auf Impulse durch die neue Regierung.


Kopfschütteln an der Bar eines Hotels in Mülheim an der Ruhr. „Dagegen hilft nicht mal mehr ein Bier“, jammert ein englischer Logistik-Fachjournalist und bestellt trotzdem ein Pils. Gerade hat er seinen deutschen Kollegen nach einer Pressekonferenz des Staplerherstellers Clark erklärt, wie es um die britische Wirtschaft im Allgemeinen und die Logistik im Speziellen steht. Der Tenor: Die Lage des englischen Patienten ist ernst, aber nicht hoffnungslos. In weniger als zwei Minuten hat er einfach zusammengefasst, worüber Volkswirte ganze Bücher schreiben: den Wandel der Wirtschaft. Im 19. Jahrhundert stand die Wiege der Industrialisierung in England, heute beträgt der Anteil des produzierenden Gewerbes gerade noch 12,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Zum Vergleich: In Deutschland sind es dem Statistischen Bundesamt zufolge 21,9 Prozent. Mehr als drei Viertel der Erwerbstätigen arbeiten in England im Dienstleistungssektor. Noch ist die Industrie nicht ganz verschwunden. Konzerne wie der Pharmariese GlaxoSmithKline, der Mineralölverarbeiter BP oder der Luftfahrttechnikspezialist Rolls-Royce sind in ihren Nischen europaweit führend. Aber die früher so mächtige Automobilindustrie, die Sänger Elton John einst zu schwülstigen Liedern, wie „I was made in England, like a blue Ford Cortina“ hingerissen hat, ist längst in ausländischer Hand. Ob Manchester, Birmingham oder London: Wo einst Schlote rauchten, stehen jetzt Bürogebäude. Das Schwergewicht in der britischen Wirtschaft sind die Dienstleister, besonders die Finanzriesen in der Londoner City. Und diese Unternehmen wurden während der Wirtschaftskrise plötzlich zu Leichtgewichten, die der Staat mit Finanzspritzen aufpäppeln musste. Die alte Regierung war mit ihrem Latein fast am Ende, als Großbritannien mit seiner Rekordverschuldung von 12,8 Prozent des BIPs beinahe auf das Niveau von Griechenland absackte. Douglas McWilliams, Leiter des Centre for Economics and Business Research, prophezeite vor Kurzem, dass Großbritannien bis 2015 aus der Liste der zehn führenden Industrienationen verschwinden könnte. Starker Handel Und wie sieht es mit dem Wirtschaftsbereich Logistik aus? Als eine Folge des Sterbens der Industrieunternehmen gab es beispielsweise für Logistikdienstleister in diesem Sektor immer weniger Arbeit. Was blieb, war der traditionell starke Handel. „Und dann erwischte die Logistiker 2008 auch noch die Weltwirtschaftskrise “, sagt Dr. ManMohan Sodhi, Experte für Supply Chain Management an der Cass Business School in London. Vor der Flaute beschäftigten sich die Dienstleister mit Themen wie den gerade um London stets verstopften Autobahnen, dem veralteten Schienennetz (siehe S. 56), dem steigenden Ölpreis, den zu geringen Containerkapazitäten an den Häfen (siehe S. 53) und den aus ihrer Sicht zu hohen Steuern. In Deutschland machten auch diverse Pannen Schlagzeilen: etwa die Sperrung des Fracht-Nadelöhrs Eurotunnel wegen vereister Lokomotiven kurz vor Weihnachten 2009 oder das Gepäck-Desaster bei der Eröffnung des 5,6 Mrd. Euro teuren Terminals 5 in Heathrow (englischer Spitzname: How-slow-Heathrow) 2008. Die kleinen Malheure sind in den Köpfen der Logistiker längst in den Hintergrund getreten, ihnen geht es um die Gesamt­situation. Am meisten Bauchschmer­zen bereitet ihnen die Frage, wann endlich die Wirtschaft wieder anzieht und wie die neue Regierung die Weichen im Bereich Logistik stellt. Wie wichtig dieser Wirtschaftssektor für Großbritannien ist, betonten Verbände unermüdlich während des Wahlkampfes von Gordon Brown, Nick Clegg, David Cameron & Co. Die Logistikbetriebe erwirtschaften jährlich mehr als sieben Mrd. Britische Pfund. Gut 2,3 Mio. Menschen sind in den 200.000 Unternehmen im Vereinigten Königreich beschäftigt. Oder anders ausgedrückt: Einer von zwölf Arbeitern ist in der Logistik tätig. Zum Vergleich: In Deutschland, das rund 20 Mio. mehr Einwohner zählt, sind in der Logistik 2,7 Mio. Menschen beschäftigt. Die Stärke der britischen Ökonomie im Handel ist gleichzeitig die Stärke der Logistik. Weil aus der Wiege der Industrialisierung ein Land der Verkäufer geworden ist, müssen viele Waren auf die Insel transportiert und dort verteilt werden. Ob Tesco, Sainsbury´s oder Waitrose: Britische Einzelhandelsketten leiden zwar auch an den Angeboten von Billig-Discountern – allen voran Aldi und Lidl – aber im Premiumbereich könnte so manches Unternehmen auf dem europäischen Kontinent etwas von den Briten lernen, betont etwa Supply-Chain-Experte Dr. ManMohan Sodhi. Und das nicht erst seit gestern. Stark waren die Briten im Handelssektor schon vor Jahren. Exaktes Forecasting und Kundenbindungsstrategien waren bei Tesco oder Sainsbury’s schon vor 15 Jahren präsente Themen. Aufträge für Deutsche Vom Erfolg der Handelsunternehmen im Vereinigten Königreich profitieren auch deutsche Intralogistik-Anbieter und Dienstleister. So freute sich beispielsweise Psb Intralogistics aus Pirmasens, als sie den Auftrag für die Ausstattung des neuen, insgesamt 50 Mio. Euro teuren ­Distribu­tionszentrums der Modekette New Look bekam (siehe LOGISTIK HEUTE 1-2/09, S.20). Und die Hamburger Jungheinrich AG wurde schnell mit Tesco einig, als es um die Ausstattung eines neuen Lagers in Asien ging, wie Jungheinrich-Vertriebsvorstand Dr. Helmut Limberg gegenüber LOGISTIK HEUTE sagt. Auch die großen deutschen Dienstleister sind zum Teil gut im Geschäft in dem rund 60 Mio. Einwohner zählenden Land. So wickelt DB Schenker einen Großteil der Baulogistik für den Sportstättenbau der Olympischen Spiele 2012 in London ab. Und die Deutsche Post DHL hat 2009 einen Fünfjahresvertrag mit der Lebensmittelkette Iceland über die Bewirtschaftung seiner vier englischen Lager und die Belieferung von 800 Iceland-Shops erhalten. Der Wert: 580 Mio. Euro. So mancher Dienstleister nutzt die Krise auch, um auf der Insel auf Einkaufstour zu gehen. So teilte Dachser aus Kempten Ende April mit, dass sie JA Leach Transport Limited in Roch­dale bei Manchester übernehmen. Alle 240 Mitarbeiter sollen an Bord bleiben, hieß es. Damit die deutschen Unternehmen ihre Produkte und Lösungen den Briten offerieren können, zeigen sie auch bei wichtigen Messen Präsenz. So haben beispielsweise SSI Schäfer, Jungheinrich und Psb Intralogistics sich schon frühzeitig Standflächen auf der Intralogistik-Messe IMHX gesichert, die vom 16. bis 19. November 2010 in Birmingham stattfindet. Trotz Wirtschaftskrise haben für die alle drei Jahre stattfindende Schau inzwischen 350 Aussteller ihr Kommen zugesagt, wie Messechef Rob Fisher gegenüber LOGISTIK HEUTE betont. Abgesehen von den großen deutschen Unternehmen sind auch bekannte asiatische Konzerne wie Toyota Material Handling oder Hyundai Heavy Industries neben den hierzulande eher unbekannten britischen Intralogistikern wie Weightron ­Bilanciai, Narrow Aisle oder Autotech Controls vertreten. Darf man deutschen Experten glauben, dann spielen die britischen Unternehmen, von Ausnahmen abgesehen, im deutschen Intralogistik-Markt aber eher eine geringe Rolle. Finanzierungsexperten in London Daraus zu schließen, von den Briten nichts lernen zu können, wäre die falsche Schlussfolgerung. Durchaus interessante Ansätze könnten deutsche Handels- und Industrieunternehmen den Briten abschauen, wenn es um Themen wie Supply Chain Finanzierung (SCF) sowie den Umgang mit besonders wichtigen oder finanzschwachen Zulieferern geht. Mitte vergangenen Jahres reisten Vertreter von Kreditinstituten sowie Führungskräfte aus Industrie und Handel zu einer Konferenz in London. Dr. ManMohan Sodhi berichtete, dass sich Unternehmen zuerst in den USA und England und dann allmählich auf dem europäischen Kontinent über SCF Gedanken gemacht hätten. Firmen wie der Schokoladenspezialist Cadbury oder der Turbinenhersteller Rolls-Royce tauschten sich in einer Diskus­sionsrunde über ihre Erfahrungen mit der Thematik aus. Die Engländer berichteten, dass auch deutsche Kreditinstitute wie etwa die Deutsche Bank immer mehr Anfragen zu Details über SCF bekommen.

 

Inzwischen haben zahlreiche Unternehmen, gerade aus dem gebeutelten Automotive-Sektor, nach anglo-amerikanischem Vorbild die Methoden des SCF angewandt und ihre Zulieferer genauer ins Visier genommen. Ein Beispiel: BMW Motorrad. Das Münchner Unternehmen gewann für sein Zulieferermanagement den SCM-Award 2010 (siehe LOGISTIK HEUTE 4/10, S.24). Der englische Patient ist also doch nicht so schwach, wie Kontinentaleuropäer mitunter annehmen. Und er ist relativ realistisch, was die Zukunft angeht. Das gilt zumindest für Entscheider aus dem Bereich Logistik. Die Mehrzahl glaubt, dass sie mindestens zwei bis fünf Jahre warten müssen, bis ihr Unternehmen das Umsatzniveau von vor der Krise wieder erreicht haben wird. So lautet das zentrale Ergebnis der repräsentativen Umfrage „Logistics Strategy Survey“, die Redshift Research bis Ende Februar bei 237 Entscheidern in Zusammenarbeit mit dem Magazin „Storage Handling Distribution“ (SHD) durchgeführt hat. Befragt wurden bei der Online-Umfrage sowohl Vertreter aus Industrie und Handel als auch Dienstleister. Das Insti­tute Redshift Research hat die Fragen zusammen mit dem Experten Guy Washer ausgewertet. Hoffen auf Impulse Von den Entscheidern wollten die Experten auch wissen, was aus ihrer Sicht die wichtigsten Hausaufgaben sind. Ganz oben auf der To-do-Liste der Befragten steht demnach die Verbesserung des Kundenservices. 64 Prozent der Unternehmen gaben das an. Die Analysten betonen, dass dieses Thema in vielen Firmen unterschätzt wird. Auf Rang zwei steht die Antwort „Suche nach alternativen Märkten“ mit 52 Prozent noch vor „Senken der Kosten in der Supply Chain“ (48 Prozent). Die Studien-Macher betonen, dass mit der Suche nach neuen Märkten die Hoffnung verbunden wird, entgangenen Umsatz wettzumachen. Kritisch bemerken sie aber, dass ein Wechsel der Gewohnheiten in vielen Unternehmen nur sehr zäh vorangehe. Allen Problemen zum Trotz: Die Logistiker lassen den Kopf nicht hängen. Nur zehn Prozent der Befragten sind pessimistischer gestimmt als vor einem Jahr. 42 Prozent sind optimistischer, bei 48 Prozent ist die Stimmung unverändert. Neue Impulse erwarten sich die Wirtschaftsvertreter nun von der neuen Regierung. Das alte Kabinett setzte sich noch in seinen letzten Wochen mit dem Ausbau des Schienennetzes auseinander (siehe S. 56). Und so mancher Politiker entdeckte sein Herz für die Industrie. „Im letzten Jahrzehnt ist unsere Abhängigkeit von Finanzdienstleistern zu groß geworden. Nun müssen andere Sektoren schneller wachsen“, sagte Wirtschaftsminister Peter Mandelson vor einigen Wochen. Er schlug vor, Zukunftsbranchen und Schlüsseltechnologien zu fördern. Dabei verwies er auf die Deutschen. Eine Institution wie die Fraunhofer-Gesellschaft, die sich unter anderem um die Forschung in der Logistik bemüht, sei doch ein Vorbild für das noch schwächelnde Vereinigte Königreich. Jö

 

Baulogistik für Olympia 2012 | Grüne Spiele Ein Leuchtturm der englischen Logistikprojekte sind die Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen, die bekanntlich im Sommer 2012 in London stattfinden. Selbst für erfahrene Baulogistiker ist das Projekt am Stadtrand der britischen Hauptstadt eine Herausforderung. Stop-and-go-Verkehr ist selbst um Mitternacht in London mehr die Regel als die ­Ausnahme. Wo Straßen verstopft sind, können Schiene und Binnenschiff eine gute Alternative sein. In diese Richtung gingen auch die Überlegungen, als die Organisatoren der Spiele die Baulogistik für den Olympischen Park und die zwölf großen Austragungsstätten in die richtigen Bahnen lenken wollten. Die Logistiker der Olympic Delivery Authority hatten die Vorgabe bekommen, die „grünsten Spiele“ aller Zeiten auf die Beine zu stellen. Mehr als die Hälfte aller Materialien, die für die Sportstätten verbaut werden, müssen über Schiene und Wasser angeliefert werden, lautete die Vorgabe. Nach den strengen Auflagen der Olympic Delivery Authority richtete auch DB Schenker seine Transporte aus, als das Unternehmen den Auftrag für die Baulogistik bekam. Extra für dieses Großprojekt errichtete der Dienstleister auf einer Fläche von elf Hektar das „multi-modal terminal Bow East Logistics Centre“. Eröffnet wurde die Anlage im Juni 2008. Seitdem herrscht dort ein hektisches Treiben, damit die täglich benötigten Materialien pünktlich zu den Baustellen kommen. Die Volumina, die täglich durch das Logistics Centre rollen, sind beachtlich. Nach Angaben der Olympic Delivery Authority müssen jeden Tag rund 5.000 t Baumaterial und Fertigteile zu den verschiedenen Baustellen gebracht werden. Auch für die Abfallbeseitigung ist der Dienstleister zuständig. Das Gros der angelieferten Materialien kommt entweder lose, auf Containern, Paletten oder Kabelrollen an, die dann im Terminal umgeschlagen ­werden. „Was auf der Schiene angeliefert werden kann, wird auch dort transportiert“, sagt David Legge, General Manager Olympics bei DB Schenker Rail (UK). Das Handeln nach dieser Devise schont nicht nur die Umwelt, sondern auch die Nerven der Verantwortlichen, die täglich sehen, wie lange Lkw im Stau stehen und wie unkalkulierbar die Lieferzeiten sein können.

Lagerprojekt der Bodleian Library | Bücherschrank im XXL-Format

In Großbritannien gibt es genau sechs große Bibliotheken, die jedes Buch, das auf der Insel gedruckt wird, vorrätig haben müssen. Die berühmte Bodleian Library gehört zu diesen „legal deposit libraries“ und wächst daher jedes Jahr um etwa 170.000 Bücher an. Stellt man die Schriftstücke nebeneinander, ergibt das rund fünf Kilometer Regallänge. Weil die Bibliothek aus allen Nähten zu platzen drohte, schaute sich die Einrichtung nach einem neuen Lager für Bücher um, die kaum gelesen, aber dennoch vorrätig sein müssen. Fündig wurde die Bibliothek in Swindon bei Oxford. Spatenstich für das Projekt war im September 2009. Gut 20 Jahre, so schätzt Dr. Sarah Thomas, Chefin von Oxford University Library Services, werden die Kapazitäten der fast 30.000 m² großen Anlage, die knapp 29 Mio. Britische Pfund kostet, ausreichen. Rund 8,5 Mio. Bücher können dort eingelagert werden. Im Gegensatz zur Zentrale der Bibliothek werden in dem riesigen Bücherschrank hauptsächlich sogenannte Langsamdreher gelagert. Die Bibliothekare schätzen, dass nur 200.000 Bücher pro Jahr überhaupt von Lesern zur Ausleihe angefragt werden. Nach Angaben der Bibliothek entspricht die Ausstattung den National Archive Standards. Darin sind genaue Aufbewahrungsrichtlinien festgelegt. Die Bücher werden beispielsweise in speziellen Behältern aufbewahrt, die verhindern, dass das Papier schnell altert. Nach Angaben von Toby Kirtley, der vonseiten der Bibliothek für das Projekt verantwortlich ist, werden fünf verschiedene Behältergrößen in das Regalsystem integriert. „Jedes Buch bekommt einen Barcode, der mit dem Barcode auf dem Behälter übereinstimmt“, so Kirtley gegenüber LOGISTIK HEUTE. Derzeit werden 20.000 Bücher pro Tag mit Barcodes versehen. Das britische Beratungsunternehmen Total Logistics arbeitete für die Anlage ein Konzept aus, das die strengen Vorschriften in puncto Feuchtigkeit, Beleuchtung und Brandschutz berücksichtigt. Die Spezialregale liefert SSI Schaefer Ltd., Andover, das Picking-System kommt von Jungheinrich. Die Software, die verwendet wird, ist ein speziell für die Bibliothek von Generation Fifth Application Inc. of Maine (USA) entwickeltes Programm.

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